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Ein Nachruf auf Astrid Lindgren

Ein Nachruf auf Astrid Lindgren
"Wir sehen uns wieder in Nangijala..."
(1907-2002)

 

Am 28.Januar 2002 ist Astrid Lindgren im Alter von 94 Jahren in ihrer Stockholmer Wohnung an einer Virusinfektion gestorben. Die Kraft hat nicht mehr zum Weiterleben gereicht – schwer ist ihr das Leben schon seit einigen Jahren gefallen. „Was gibt das für ein Bild von Schweden ab“, kommentierte sie vor knapp fünf Jahren ihre Auszeichnung als Årets svensk i världen, „wenn ihr einen halbblinden und fast tauben Menschen zum Repräsentanten Schwedens in der Welt macht!“ Auch wenn in dieser Äußerung der unverwechselbare lindgrensche Humor zu spüren ist – sie enthielt schon damals mehr Wahrheit, als manch einer wahrhaben wollte.
Mit ihrem neunzigsten Geburtstag hat sich Astrid Lindgren 1997 konsequent aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Schwer krank sei sie zuletzt gewesen, berichtet Suzanne Öhman-Sundén, Chefin vom Rabén&Sjögren-Verlag, bei dem Astrid Lindgren mit ihrem Manuskript zu Britt-Mari erleichtert ihr Herz 1944 den zweiten Preis in einem Wettbewerb um das beste Mädchenbuch gewann – ein Ereignis, das den Grundstein für eine lebenslange Zusammenarbeit legte. Trotz des Wissens um den schlechten gesundheitlichen Zustand der Autorin seien alle Mitarbeiter des Verlages „schockiert und traurig“ über die Nachricht von ihrem Tod.
Schock und Trauer – die unmittelbaren Reaktionen auf Tod und Todesangst haben Astrid Lindgren in ihren Kinderbüchern mehr als einmal beschäftigt.

„Weißt du, dass ich bald sterben muss?“ fragte ich und weinte. Jonathan dachte ein Weilchen nach. Er antwortete mir wohl nicht gern, doch schließlich sagte er: „Ja, das weiß ich.“ Da weinte ich noch mehr. „Wie kann es nur so was Schreckliches geben?“ fragte ich. „Wie kann es so etwas Schreckliches geben, dass manche sterben müssen, wenn sie noch nicht mal zehn Jahre alt sind?“ „Weißt du, Krümel, ich glaube nicht, dass es so schrecklich ist“, sagte Jonathan. „Ich glaube, es wird herrlich für dich.“ „Herrlich?“ sagte ich. „Tot in der Erde liegen, das soll herrlich sein?!“ „Aber geh“, sagte Jonathan. „Was da liegt, ist doch nur so etwas wie eine Schale von dir. Du selber fliegst ganz woanders hin.“ „Wohin denn?“ fragte ich, denn ich konnte ihm nicht recht glauben. „Nach Nangijala“, antwortete er.

Nangijala – das ist Astrid Lindgrens Sinnbild für die tröstliche Vorstellung, dass der Tod das Leben nicht radikal beendet, sondern nur in eine andere Dimension überführt. Nangijala steht für eine ganze Welt, die hinter den Dingen liegt, die wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen – ein durch und durch romantisches Konzept. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Brüder Löwenherz wurde Astrid Lindgren für dieses Konzept heftig kritisiert, nicht nur von religiöser Seite (wo man mit ihrer unorthodoxen Jenseits-Vorstellung Probleme hatte), sondern auch von „aufgeklärten“ Eltern und Pädagogen, die der Autorin vorwarfen, mit ihrer Geschichte den Doppelselbstmord zweier Brüder zu verherrlichen. Haben die Kritiker verstanden, was dieses Nangijala eigentlich ist?

Nach Nangijala – das sagte er so einfach, als wüßte das jeder Mensch. Aber ich hatte noch nie etwas davon gehört. „Nangijala“, sagte ich, „wo liegt denn das?“ Da sagte Jonathan, das wisse er auch nicht so genau. Es liege irgendwo hinter den Sternen. Und er fing an, von Nangijala zu erzählen, so dass man fast Lust bekam, auf der Stelle hinzufliegen. „Dort ist noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen“, sagte er, „und das wird dir gefallen.“ Von dort, aus Nangijala, stammen alle Märchen und Sagen, sagte Jonathan, und dort gehe es auch noch zu wie in den Märchen. Wenn man dort hinkomme, erlebe man von früh bis spät und sogar nachts Abenteuer.

Das Land der Märchen und Abenteuer – das Reich der Phantasie, das ist es, was Astrid Lindgren ihren Lesern geschenkt hat. Die phantastisch starke Pippi Langstrumpf, Bo Vilhelm Olsson alias Prinz Mio und Karlsson vom Dach eröffnen eine Welt, in der die realen Beschränkungen des kindlichen Alltags keine Rolle zu spielen scheinen. Die Welt funktioniert in Astrid Lindgrens Büchern nach neuen Maßstäben, denen der Phantasie. Die Phantasie behauptet sich gegenüber der Erwachsenenwelt, an der das Kind sich nicht mehr messen lassen muss. Die Eigenständigkeit kindlicher Helden charakterisiert im Übrigen nicht nur die phantastischen sondern auch die realistischen Erzählungen Astrid Lindgrens. Nicht nur Pippi und Karlsson, auch Michel von Lönneberga, die Kinder aus Bullerbü und Saltkrokan oder Lotta aus der Krachmacherstraße verkörpern die „freien Kinder“, die sich die schwedische Pädagogin Ellen Key in ihrem Werk Das Jahrhundert des Kindes bereits 1901 gewünscht hatte: Kinder, die sich frei von den Maßregelungen Erwachsener entwickeln und dabei ihrer kindlichen Phantasie und Kreativität ungehinderten Lauf lassen dürfen.
Außer ihrer Freiheit erleben Astrid Lindgrens Kinder aber noch etwas anderes: Geborgenheit. Geborgenheit, die durch Nähe, Freundschaft, Liebe entsteht. Das sind die beiden Momente, die Astrid Lindgrens Helden stark machen. Und die eine Faszination auf ihre kindlichen und erwachsenen Leser ausüben. So wie in Bullerbü, Lönneberga oder der Villa Kunterbunt, so wünscht man sich, dass auch die eigene Kindheit aussehen soll.
Astrid Lindgren macht sich nicht zur Anwältin der Kinder, sie lässt die Kinder selbst sprechen. Konsequent erzählt sie aus der kindlichen Perspektive und passt sich in ihrer Darstellung dem Duktus kindlichen Sprechens an, ohne dabei das Poetische zu vernachlässigen. Der berühmte „lindgrensche Ton“, das Schreiben „vom Kinde aus“ hat die Kinderliteratur in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts revolutioniert. Für ihre weltweit durchschlagenden Verdienste um die Kinderliteratur hätte Astrid Lindgren der Nobelpreis zugestanden werden können, darin sind sich in Schweden nicht nur Kinderliteraturforscher einig. „Die Literatur in idealischer Weise befördern“ sollte der jeweilige Preisträger nach dem Willen Alfred Nobels. Diese Voraussetzung hätte Astrid Lindgren sicher mindestens so hervorragend erfüllt wie viele andere Kandidaten.
Jetzt ist es zu spät, sie hat sich verabschiedet.

Erst da musste ich daran denken, wie es in Nangijala ohne Jonathan sein würde. Wie einsam ich ohne ihn wäre. Was nützte es mir, wenn ich in allerlei Sagen und Abenteuer hineingeriet und Jonathan nicht dabei war. Ich würde mich nur fürchten und mir nicht zu helfen wissen. „Ich will nicht dorthin“, sagte ich und weinte. „Ich will da sein, wo du bist, Jonathan!“ „Aber ich komme ja auch nach Nangijala“, sagte Jonathan. „Nach einiger Zeit.“
„Nach einiger Zeit, ja“, sagte ich. „Aber du wirst vielleicht neunzig Jahre alt, und bis dahin muss ich dort allein sein.“ Da erzählte Jonathan, dass die Zeit in Nangijala nicht ebenso ist wie hier auf Erden. Selbst wenn er neunzig Jahre alt würde, käme mir das so vor, als dauerte es nur etwa zwei Tage, bis er da wäre. Denn so sei es, wenn es keine richtige Zeit gebe. „Zwei Tage wirst du es wohl allein aushalten können“, sagte er. „Du kannst ja inzwischen auf Bäume klettern und dir ein Lagerfeuer im Wald machen und an irgendeinem kleinen Fluss sitzen und angeln. Du kannst all das tun, wonach du dich immer so sehr gesehnt hast. Und gerade, wenn du einen Barsch an der Angel hast, komme ich angeflogen, und dann sagst du: Ja, meine Güte, Jonathan, bist du schon da?“ Ich versuchte, mit dem Weinen aufzuhören, denn ich dachte, zwei Tage würde ich es wohl aushalten können. „Aber stell dir vor, wie gut es wäre, wenn du zuerst da wärst“, sagte ich. „Wenn du schon dort sitzen und angeln würdest.“
Das fand Jonathan auch. Er sah mich lange an, so liebevoll, wie er es immer tat, und ich merkte, dass er traurig war, denn er sagte leise und fast bekümmert: „Statt dessen muss ich ohne meinen Krümel hier auf Erden leben. Vielleicht neunzig Jahre lang!“

Astrid Lindgren hat sich auf die Reise in das Land außerhalb der Zeit gemacht und uns zurückgelassen. Einen Vorteil haben wir aber gegenüber Jonathan, der vielleicht lange neunzig Jahre warten muss, bis er seinen Bruder Krümel in Nangijala wiedersieht: Astrid Lindgrens Bücher lassen uns nicht allein auf Erden!


Svenja Blume
Januar 2002

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